Manchmal bin ich ganz schön neidisch. Neidisch auf die, die sich heutzutage trauen, einfach zu machen. Unternehmen zu gründen. Ideen zu verfolgen. Der Unsicherheit trotzen und sich selbst zu vertrauen. Die Selbstständigkeit wagen, bevor sie je für ein anderes Unternehmen gearbeitet haben. In Bereichen, in denen sie weder Berufserfahrung noch familiäre Vorkenntnisse haben. Mit Anfang zwanzig dachte ich ehrlich gesagt gar nicht, dass das geht. Da waren Unternehmensgründer für mich jene, die eine tiefe Expertise in einem bestimmten Bereich mitbrachten und sich damit selbstständig machten. Jene, die Familienunternehmen übernahmen und in die Fußstapfen vorheriger Generationen traten. Kurzum: Jene, die genau wissen, was sie tun. Zugang zu Wissen haben, das nicht jeder hat. In gewisser Weise privilegiert sind.
Falsche Glaubenssätze vom Unternehmertum
Für mich stand gar nicht zur Debatte, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Eine eigene Idee zu verfolgen. Ich hatte meine Augen fest aufs Studium gerichtet, den Bachelor, den Master, die Corporate Career. Und dann, wenn ich irgendwann in einem Bereich richtig gut sein würde, wenn ich mich bewiesen und der Welt gezeigt hätte, dass auch ich weiß, was ich tue, na dann vielleicht hätte ich mir ein eigenes Unternehmen zugetraut. Mit diesem Glaubenssatz stehe ich heute ganz schön blöd da. Schaue mich in meiner Generation und der nächsten um und sehe junge Leute, die all das nicht davon abgehalten hat, zu gründen. Die sich nicht einreden, sie müssten sich erst mal beweisen. Oder sich ihre Daseinsberechtigung am Markt zunächst mit zehn, fünfzehn Jahren Erfahrung in einem großen Unternehmen erarbeiten zu müssen. Erst ernst genommen würden, wenn sie sich genauso hochgekämpft hätten, wie Generationen vor ihnen auch. Ich bewundere diesen Unternehmergeist zutiefst. Das Mindset, das dahinter steckt. Vor allem aber den Trotz gegen gesellschaftliche Karriere-Konventionen. Den Mut zur Unsicherheit. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, lange bevor diese durch ein Senior Management, Trainer und Mentoren validiert wurden.
Corporate Career: Hierarchie, Performance, Politik
Oft sage ich mir, mir fehle nur die richtige Idee für die Selbstständigkeit. Rede mir ein, ich habe mich noch nicht genug bewiesen, habe noch nicht den Rang, die Seniorität erreicht, um mich auf eigene Faust am Markt zu behaupten. Die Wahrheit jedoch ist: Ich weiß meiner Corporate Career auch noch sehr viel abzugewinnen. Ich bin für sie gemacht. Ich liebe die Dynamik, die Größe, die Verantwortung, die internationale Zusammenarbeit, die Relevanz. Das Gefühl, Produkte im Lebensmitteleinzelhandel zu sehen, an denen ich mitgewirkt habe. Und das mittlerweile aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Im Verlauf einer Corporate Career gibt es je nach Unternehmen so viele Möglichkeiten, unterschiedliche Rollen zu spielen, Sichtweisen anzunehmen, zu wachsen. Eine solche Karriere ist fordernd, Performance-getrieben und schnelllebig. Auch in die flachsten Hierarchien muss man sich einfügen und lernen mitzuspielen. Sich beweisen, immer wieder neu. Und dabei ist in vielen Rollen eben auch Entrepreneur-Denken gefragt. Klare Entscheidungen. Eigenständigkeit. Entschlusskraft.
Viele derer, die heute Karrierewege einschlagen, gehen dieser Art Anstellung bewusst aus dem Weg. Vielleicht weil die großen Unternehmen nicht mehr so sexy sind wie vor zehn Jahren. Vielleicht, weil Karrierepfade und Entwicklungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund derer, die mit Anfang zwanzig schon zur Chefetage gehören, nicht mehr attraktiv genug sind. Vielleicht weil es heute so viele andere Wege gibt, so viele verschiedene Definitionen von Erfolg, so viel mehr Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten und die Einstellung, nicht alles schon können zu müssen, bevor man ein Unternehmen gründen kann. Trotzdem ist die Corporate Career, mit all ihren Möglichkeiten und Erfahrungswerten, für mich nach wie vor unheimlich erstrebenswert. Nach wie vor schaue ich zu Menschen auf, die es auf dieser Leiter sehr weit nach oben geschafft haben. Die als CMOs und General Manager auf großen Konferenzen sprechen und so viel Expertise mitbringen, dass ganze Belegschaften ihnen motiviert und inspiriert folgen. Insgeheim ist auch das ein Traum, den ich nicht aufgeben möchte.
Corporate Career & Unternehmensgründung – Geht beides?
Wenn ich eines mit meiner Generation gemein habe, dann ist es die „I want it all“-Mentalität. Den Glauben daran, sich nicht für einen Weg entscheiden zu müssen. Alles mitzunehmen. Keine Kompromisse zu machen. Aber ist das am Ende nur eine naive Vision, fernab von der Realität? Weder die Corporate Career, noch eine Unternehmensgründung funktionieren mit 50% Anstrengung und Zeitinvest. Für beides braucht man 150%. Es gibt sie, die Menschen, die sich aus einer Corporate Career nebenbei ein eigenes Business aufbauen und den alten Job verlassen sobald dieses in etwa ein Gehalt einbringt, mit dem man sich über Wasser halten kann. Aber gibt es auch jene, bei denen beides funktioniert? Ohne Kompromiss? Kann man Corporate CMO sein und ein eigenes Unternehmen führen? Sich das Beste aus beiden Welten aussuchen? Würde die jeweils andere Instanz nicht unheimlich von dem gegenüberliegenden Erfahrungsschatz profitieren? Der Corporate Job von dem Mindset, sich im Kleinen an Neues heranzutasten, und die Unternehmensgründung von der Expertise, skalieren zu können?
Wie viele Menschen stehen gerade vor dieser Überlegung? Scheitern am Risiko, der Unsicherheit, falschen Glaubenssätzen? Wie viele Potentiale könnten geweckt werden, wenn wir uns nicht mehr für das eine und gegen das andere entscheiden müssten? Was, wenn junge Unternehmensgründer heute die Möglichkeit hätten, an Marketingstrategien großer Unternehmen mitzuwirken und neben ihrem eigenen Business eine Corporate-Verantwortung übernehmen könnten? Wie viel attraktiver würden diese Aufgaben? Wie viel besser die Strategien? Wie viel mehr Talente gäbe es auf beiden Seiten, wenn sich diese Türe öffnen würde?
Vielleicht klingt so in etwa die Karriere der Zukunft. Und ich finde es kann losgehen.