Bild: Ausschnitt aus dem Trailer zu „The Social Dilemma“
„Noch so ein Anti-Social Media Film“, ging mir durch den Kopf, als in meiner Umgebung erstmalig über „The Social Dilemma“ auf Netflix gesprochen wurde. Vom Namen her zu urteilen vermutlich eine Dokumentation, die für mehr echte Interaktionen wirbt, weniger Screen Time, Digital Detox. Ganz ehrlich: Mein Social Media Konsum hat mich noch nie wirklich beunruhigt. Die neue Montag-Morgen-Benachrichtigung, die mir mittlerweile ungefragt meine Bildschirmzeit der vergangenen Woche anzeigt, deutet allerdings darauf hin, dass ich einen Großteil meiner Smartphone-Zeit auf Social Media verbringe. Im Schnitt der letzten Woche knapp unter einer Stunde. Am Wochenende sind es dann aber auch mal drei Stunden.
Warum ich das nicht so sehr hinterfrage? Weil ich glaube, dass ich einen sehr bewussten Umgang mit Social Media habe. Und weil mich viele der Inhalte, die ich dort ausgespielt bekomme, wirklich interessieren. Das macht ja auch Sinn, immerhin basiert der für mich sichtbare Content auf meinem persönlichen Verhalten. Auf meinen Vorlieben. Auf meinen bewussten Entscheidungen. Und da fange nun auch ich an zu schmunzeln.
Ein bewusster Umgang mit Social Media
Tatsächlich glaube ich als Marketeer ziemlich genau zu wissen, womit ich es im Social Web zutun habe. Ich bin mir bewusst, dass die Influencer, denen ich folge, für die Produkte, die sie bewerben, bezahlt werden. Ich bin mir bewusst, dass ich ganz gezielt Werbung ausgespielt bekomme, die genau jetzt für mich relevant ist. Weil ich vielleicht gerade auf Möbelsuche bin. Oder überall nach dem Trenchcoat schaue, der auf Pinterest mal wieder weder verlinkt noch namentlich genannt wurde. Wenn ich mich also dafür entscheide, ein auf Social Media beworbenes Produkt zu kaufen, dann ist das in meinen Augen erstmal eine bewusste Entscheidung. Ein win-win. Ich habe etwas angezeigt bekommen, das mir gefällt. Ich musste mich nicht Ewigkeiten durch zig Online Shops scrollen. Je mehr Inhalte, Produkte und Möglichkeiten mir für mich maßgeschneidert vorgeschlagen werden, desto besser.
Dies auch vor dem Hintergrund, dass ich beruflich die Perspektive des großen Advertisers kenne. Ich sehe eine große Chance darin, durch zielgerichtetes Targeting genau den Konsumenten zu finden, der gerade für mein Produkt empfänglich ist. Ist das nicht am Ende ethischer, als wahllos Content in die Menge zu streuen? Müssen wir uns nicht als Gesellschaft einfach endlich mal an das Internet, die Digitalisierung, an Social Media gewöhnen, so wie wir uns vor Jahren an die TV Werbung und die Berichterstattung großer Medienhäusern gewöhnt haben? Sind wir nicht alle im Stande, diese beiden Welten insofern zu differenzieren, dass wir digitalen Content richtig verstehen und in Perspektive setzen können?
Wir sind uns doch bereits bewusst, dass ein wohl kuratierter Instagramfeed nicht immer der Realität entspricht und folgen mittlerweile eher den Social-Persönlichkeiten, die auch von ihrem wahren Leben berichten. Braucht es wirklich eine Instanz, die Social Media für uns reguliert, weil wir es selber nicht schaffen?
Das 1×1 der Marketingtheorie
„The Social Dilemma“ hat mir einen ganz bestimmten Aspekt vor Augen geführt, den ich eigentlich schon ganz zu Beginn meines Marketingstudiums gelernt und verinnerlicht hatte: Unser Verhalten wird zu einem ganz erheblichen Teil von unbewusst wahrgenommenen Informationen beeinflusst. In dem Zusammenhang erinnere ich mich an das dicke Standardwerk von Kroeber-Riel zum Konsumentenverhalten, an den Homo Oeconomicus und daran, dass eben nur sehr wenig rational und bewusst gehandelt wird.
Obwohl wir häufig glauben, dass wir am Supermarkt Regal bewusste Entscheidungen für und gegen Marken, Formate oder Preise treffen, so läuft der Großteil der Entscheidungsfindung unterbewusst ab. Das kleine 1×1 der Marketingtheorie und immer noch meine ich, mein Social Media Verhalten unter Kontrolle zu haben. Meine ich, Kaufentscheidungen bewusst zu treffen. Und dass mir auf Social Media genau die Inhalte ausgespielt werden, die für mich persönlich relevant sind. Aber was war wohl zuerst da? Der Inhalt, oder dessen Relevanz für mich? Wer bestimmt wohin sich mein Interesse entwickelt? Und wie kritisch hinterfrage ich, was ich konsumiere? Merke ich immer genau, welcher Content mir Freude bereitet, mich inspiriert und ermutigt und welche Inhalte mich demotivieren oder gar unter Druck setzen?
Von Zitronenwasser und Gründerinnen
Wenn ich meinen aktuellen Newsfeed einmal reflektiere, werde ich von einer Mischung aus Interior Designern, Unternehmer- und Gründerinnen, Fashion-Influencern und frisch gebackenen Mamas (hello 2020) beeinflusst. Und möchte behaupten, dass es mich persönlich weiterbringt, zu verfolgen, wie meine Lieblings-Bloggerinnen aus Wien den Tag mit heißem Zitronenwasser beginnen, erfolgreich eigene Unternehmen aufbauen und dabei den Limitierungen einer klassischen Karriere trotzen. Ich finde diese Vorbilder wichtig und relevant. Ich erfreue mich daran, über Plattformen wie Instagram oder LinkedIn Menschen zu finden, die mit gutem Beispiel voran gehen, mit gesellschaftlich eingefahrenen Strukturen brechen und erfolgreich ihr Ding machen. Und ich freue mich über jede Mutter auf Instagram, die ihr eigenes Business mit Familie weiterführt. Einfach, weil ich das alles in meiner eigenen Welt noch zu selten sehe.
So sehr ich diese virtuellen Begegnungen und Eindrücke zu schätzen und hoffentlich auch in Perspektive zu setzen weiß, habe ich eines aus dem Film mitgenommen: Ich sollte mehr von dem, was ich in der digitalen Welt wahrnehme und konsumiere, selber steuern. Aktiv nach neuen Inhalten suchen, neue Stimmen zulassen. Meinen Radius erweitern und den Mix verbessern. Um nicht abzustumpfen, nicht zu polarisieren, um zwischen fünf verschiedenen Meinungen meine eigene bilden zu können.
Für mehr Bewusstsein
Anders als eingangs vermutet geht die Dokumentation von Jeff Orlowski über gut gemeinte Ratschläge à la „das Smartphone nicht mit ins Schlafzimmer nehmen“ und „alle Social Media Apps löschen“ hinaus und hat mir persönlich zwei Anstöße mit auf den Weg gegeben, die ich umsetzbar und hilfreich finde:
1. Don’t click on videos or posts that are recommended to you. Instead of letting the alghorithms guide you, it’s better to search the next video you want to watch. Always choose. Jason Lanier
2. Follow people on Social Media you don’t agree with. Cathy O’Neil
Vielleicht werden wir uns auf diese Weise doch wieder etwas bewusster über unser Social Media Verhalten. Und beschränken nach und nach die Verhaltensmanipulation auf jene, die uns nachhaltig wirklich gut tun. Allem vorran das heiße Zitronenwasser am Morgen.