Fast anderthalb Monate sind wir nun Zuhause. Verlassen die Wohnung nur für Einkäufe, zum Spazieren oder Laufen gehen. Von der anfänglichen Unsicherheit bis hin zu dem, was wir im Unternehmenskontext als „the new normal“ bezeichnen, bin auch ich in den vergangenen Wochen sämtliche Phasen durchlaufen. Glücklicherweise, und wohl wissend dass es vielen Menschen anders geht, habe ich schnell gemerkt, dass das Leben (gut) weitergeht. Auf sehr ungewöhnliche Art und Weise, aber es geht. Aber auch aus diesem Komfort heraus hat die Corona-Krise mit mir schon einiges gemacht. Unter anderem in Sachen FOMO, der Angst, etwas im Leben zu verpassen (engl.: fear of missing out). Und was es ist, das wir in Zeiten von Corona wirklich verpassen.
Die anfängliche Erleichterung: Alle bleiben Zuhause
Nachdem der erste Schock über die neue Situation vorbei war und ich mich langsam an den Gedanken gewöhnt hatte, die kommenden Wochen Zuhause zu verbringen, kam mir schnell eine sehr beruhigende Erkenntnis: Alle bleiben Zuhause. Das heißt, dass niemand gerade im Yogastudio eine schweißtreibende Einheit absolviert während ich auf der Couch sitze und Modern Family schaue. Dass niemand gerade in großer Runde die Grillsaison eröffnet und ich mich darum sorgen muss, dass wir noch keine Terassenmöbel haben. Dass kein Restaurant, keine Bar, kein Café geöffnet ist und ich mich daher nicht fragen muss, ob wir in unserem neuen Veedel eine coole Location verpassen. Weil alle Zuhause sind. Jeder in seiner eigenen Location.
Diese Erkenntnis war offen gesprochen für mich eine große Wohltat. Nicht nur weil mein introvertiertes Persönlichkeitsprofil überhaupt kein Problem damit hat, Zuhause zu bleiben, sondern weil ein großer Druck abfällt, immer das Beste aus jedem Tag, jedem Feierabend, jedem Wochenende zu machen. Und dem Glauben, dass das eben Zuhause nicht funktionieren kann. Und plötzlich steht man vor der Erkenntnis: Ich verpasse nichts. Draußen ist nichts los. Ich kann mich einfach mal entspannen. Und ohne schlechtes Gewissen die nächste Folge abspielen.
Von Virtual Dinners, YouTube Trainings und dem großen Aktionismus
Dass das nicht lange so bleiben würde, war ja irgendwie klar. Und das sich FOMO ganz schnell einen neuen Weg bahnen würde um uns über die Medien zu zeigen, wie wir unsere Zeit zuhause eigentlich am besten nutzen. Von großen Aufräumaktionen und Renovierungsarbeiten bis hin zu kreativen Tätigkeiten die lange keine Zeit gefunden haben. Nach dem Home Office geht’s zum virtuellen Dinner mit Freunden oder aber an eine schweißtreibende Trainingssession, live auf Instagram. Hauptsache virtuell vernetzt und mit dabei. Bereits in Woche zwei dreht sich in den Medien alles um Effizienz, Vereinbarkeit, Zeitmanagement. Die Top 10 Tipps fürs Arbeiten im Home Office. Mitarbeiter Motivieren. Etikette für Video-Calls. Puuuhhh! Modern Family neigt sich dem Ende zu und ich starte mit der neuen Staffel Grace & Frankie – aber diesmal wieder mit schlechtem Gewissen.
Die Erwartung an die eigene Quarantäne-Story
Langsam frage ich mich auch, was ich wohl aus der Quarantäne-Zeit während Corona besonderes hervorbringen werde. Was ist die Geschichte, die ich irgendwann mal erzählen kann? „Wir waren wochenlang Zuhause, haben gearbeitet, viel gekocht, gegrillt, waren ab und zu laufen und haben das ein oder andere YouTube-Training gemacht?“ Bestimmt nicht. Jetzt muss ja mindestens die Zeit sein, in der ich einen Blogartikel nach dem anderen schreibe, Content produziere, den Look des Blogs überarbeite, Word Press-Tutorials anschaue und lauter kreative Ideen habe. Damit ich irgendwann sagen kann: Ich habe die Zeit Zuhause richtig ausgenutzt. Ich habe richtig was geschafft.
Die Wahrheit ist, dass dies der erste Text ist, an den ich mich nach vier Wochen Zuhause überhaupt ransetze. Nicht weil es keine Ideen gegeben hätte, sondern weil der innerliche Druck, etwas Tolles aus der Zeit zu machen, das „Beste“ aus der Situation zu machen, die Kreativität im Keim erstickt hat. Erwartungen, die zum einen für mich sehr typisch sind, und zum anderen auch sehr stark von anderen vorgelebt wurden. Von kreativen Einfällen und selbstgebastelten Osterkörbchen für den Freundeskreis bis hin zu kleinen Unternehmen, die sich mit guten und schnell umgesetzten Ideen ihre Existenz zu sichern versuchten. Alles schien sich auf die neue Situation, die neue Umgebung anzupassen. Neue Ideen, neue Geschäftsmodelle und Arbeitsweisen. Und mit all dem das altbekannte Gefühl, etwas zu verpassen. Nicht schnell genug auf den Zug aufzuspringen, die Situation nicht bestmöglich auszunutzen, eine Chance zu verpassen, zurückzubleiben.
Was wir jetzt nicht verpassen dürfen
Es wird einen Zeitpunkt in der Zukunft geben, an dem wir auf diese Wochen zurückschauen werden. Eine Zeit, in der wir gezwungen waren, Zuhause zu bleiben. In der sich unser Leben kurzzeitig sehr stark verlangsamt hat, geprägt von Veränderung und Ungewissheit. Wie werden wir uns an diese Zeit erinnern? Voller Stolz mit Blick auf die Liste an Dingen, die wir Zuhause endlich erledigt haben? Der aufgeräumte Keller? Der aussortierte Kleiderschrank? Die (noch ungeschriebenen) Blogartikel? Oder werden wir darüber nachdenken, was die Zeit mit uns gemacht hat? Ob sie verändert hat, was uns wichtig ist? Welche neuen Perspektiven sie uns aufgezeigt hat, uns vielleicht sogar uns selber ein Stück näher gebracht hat? Inwiefern sie vielleicht genau das war, was wir gebraucht haben.
Das ist es, was es nicht zu verpassen gilt.
Ich habe nun für mich beschlossen, dass ich nicht mit einer riesen Idee oder Errungenschaft aus dieser Zeit herauskommen muss. Sondern mit der Fähigkeit, mich in einer Tätigkeit verlieren zu können, die mir nichts weiter bringt als einen sorgenlosen, unbeschwerten, seligen Moment.
Und sei es der dritte Re-Run aller Staffeln mit den Pritchetts und Dunphys.